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Angriff aufs deutsche Erbe Es kommt nicht oft vor, dass Aufruhr herrscht in Russlands Exklave Kaliningrad, dem früheren ostpreußischen Gebiet rund ums einstige Königsberg. Seit Ende Oktober aber sehen sich die Behörden einer Welle des Unmuts ausgesetzt: Historiker, Künstler und Schriftsteller, darunter die Chefs des PEN-Zentrums, des lokalen Symphonieorchesters und des Schriftstellerverbands, haben in einem offenen Brief die „aggressive Klerikalisierung” des Landes angeprangert. Immer rücksichtsloser strebe die eng mit dem Staat verbandelte Russisch-Orthodoxe Kirche nach Vermögen und Machtzuwachs. Grund für die Aufregung ist die handstreichartige Übernahme von ehemals deutschen Kirchen, Schlössern und Burgen durch die Orthodoxen. Dazu zählen die frühere Königsberger katholische Kirche Zur Heiligen Familie, in der heute die Kaliningrader Philharmonie zu Hause ist, die wiederaufgebaute, ehemals evangelische Luisenkirche, die ein Puppentheater beherbergt, oder die Schlossruine der früheren Kreisstadt Insterburg, heute Tschernjachowsk, die eine Stiftung als Kulturzentrum nutzt. Ermuntert wurde die Kirche durch ein Gesetz der russischen Staatsduma, das im Januar in Kraft treten soll: Danach dürfen religiöse Organisationen allen Besitz zurückfordern, der ihnen nach 1917 im Zuge der Kirchenverfolgung durch Stalin weggenommen worden war. Im nördlichen Ostpreußen hatte es orthodoxen Kirchenbesitz zwar nie gegeben: Das Gebiet war erst 1945 an Moskau gefallen. Trotzdem erkannten die Kaliningrader Kirchenoberen in dem neuen Gesetzentwurf sofort eine Chance: Unterstützt von der Gebietsregierung, brachten sie im Kaliningrader Parlament ein Eilgesetz durch, das ihnen auch die wertvollsten deutschen Erbstücke überschreibt. Die kleinen evangelischen und katholischen Gemeinden vor Ort, die zuallererst Anspruch auf die Immobilien gehabt hätten, wurden bei der Vergabe gar nicht erst gehört — die orthodoxe Kirche betrachtet beide Konfessionen als lästige Konkurrenz und versucht seit langem schon, sie überall im Lande auszuschalten. Swetlana Sokolowa, die Direktorin des Kaliningrader Stadtmuseums Friedländer Tor, sieht in der Entscheidung des Parlaments „eine Katastrophe für das kulturelle Erbe der Region und für den Tourismus”. Die orthodoxe Kirche habe kein Geld für Erhalt oder Wiederaufbau der alten Anlagen, deutsche Investoren aber würden nun abgeschreckt. Im Fall der St. Katharinenkirche von Arnau östlich Kaliningrads ist das bereits so. Das Gotteshaus, berühmt für seine Fresken aus dem 14. Jahrhundert, hatte nach dem Krieg einer Kolchose als Getreidespeicher gedient, bevor es verfiel. Ein deutsches Kuratorium baute von 1993 an den Turm wieder auf, errichtete einen neuen Dachstuhl und schloss mit der Provinzregierung einen Vertrag über die Nutzung der Kirche als Museum — 385.000 Euro investierten die Deutschen bisher. Als jetzt auch diese Kirche an die Orthodoxen fiel und der Vertrag annulliert wurde, stellten sie die Renovierungsarbeiten ein. Besonders erregt die Kaliningrader, dass sich die Orthodoxen auch mehrerer Schlösser und Burgen des Deutschen Ordens bemächtigten, die nie religiöse Einrichtungen gewesen sind. Das Kaliningrader Bistum war auch in diesem Fall um eine Ausrede nicht verlegen: In jeder deutschen Burg „hat es doch eine Kapelle gegeben”, so ein Sprecher.
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